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Wenn die Durchschnittslöhne sinken, steigt das Rentenniveau trotz stagnierender Renten. Klingt paradox, ist jedoch logisch. Die Merkel-Regierung hat versäumt, das Rentensystem zu reformieren – mit dramatischen Folgen für alle Generationen.

Alle reden vom sinkenden Rentenniveau, dabei wird das Rentenniveau erstmals seit Jahrzehnten nicht sinken, sondern steigen – nicht dank höherer Renten, sondern wegen sinkender Löhne. „Das Rentensystem ist ein Umlageverfahren“ – dieser eherne Satz ist schon längst außer Kraft gesetzt worden von einer Schröder-Regierung und der nachfolgenden Merkel-Regierung – zuletzt ganz massiv von Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil, der die doppelte Haltelinie im Bundestag durchdrückte, wonach der Rentenbeitrag bis 2025 maximal auf 20 Prozent des Bruttoeinkommens steigen und das Rentenniveau nicht unter 48 Prozent fallen darf.

Löhne sinken, Rentenniveau steigt

Das Rentenniveau ist ein jährlich neu berechneter Durchschnittswert, der den Durchschnittslohn aller gesetzlich Rentenversicherten zur Standardrente (45 Jahre volle Beitragszahlung bezogen auf ein Durchschnittseinkommen) ins Verhältnis setzt. Wenn jetzt, wie durch Corona, der Durchschnittslohn sinkt, die Standardrente aber gleich bleibt, steigt das Rentenniveau. Und dass der Durchschnittslohn 2020 sinken wird, dürfte jedem einleuchten. Weit mehr als zehn Millionen Beschäftigte wurden in Kurzarbeit geschickt, viele Unternehmen sind insolvent oder überleben nur dank massiver Staatshilfen, Selbstständige müssen massenweise Hartz IV beantragen. Das gilt vor allem für den Kunst- und Kulturbereich. So ist die Zahl der Arbeitslosen im Mai 2020 gegenüber dem Vergleichsmonat des Vorjahres laut Arbeitsagentur um eine halbe Million auf 2,8 Millionen gestiegen, parallel dazu ist die Zahl der Stellenangebote um 200 000 gefallen. 3,5 Millionen sind unterbeschäftigt; allein für März rechnet die Arbeitsagentur mit mehr als zwei Millionen Kurzarbeiter, das Münchner ifo-Institut geht von aktuell 7,3 Millionen Kurzarbeitern aus.

Was bringen diese Zahlenspiele? Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit bedeuten weniger Lohn – und das massenweise. Das Durchschnittseinkommen aller Versicherter wird 2020 also definitiv sinken. Weil die Renten aber nicht sinken dürfen, obwohl sie es wegen des Umlageverfahrens müssten, bekommen die Rentner im Verhältnis zur Lohnentwicklung fiktiv mehr Geld, tatsächlich stagniert ihre Rente. Das Rentenniveau steigt.

Herumschrauben an der Rentenformel

So langsam haben das auch die Wirtschaftsredakteure von Zeitungen wie der „Süddeutschen“ und der „Welt“ begriffen. Hendrik Munsberg von der „Süddeutschen“ hat die „Unwucht im Rentensystem“ erkannt, weil Heil den „Nachholfaktor“ ausgesetzt hat und Bundeskanzlerin Angela Merkel diesen Faktor auch nicht wieder einführen will, wie Johannes Vogel (FDP) auf eine Regierungsbefragung erfuhr. Der Nachholfaktor ist Bestandteil der Rentenformel  und bewirkt, dass wegen sinkender Durchschnittslöhne notwendige, aber unterbliebene Rentenkürzungen bei einer möglichen späteren Rentenerhöhung berücksichtigt werden müssen und die Rentenerhöhung deswegen ausfallen kann. Renten können danach zwar nicht sinken, aber auch nicht steigen. Der Nachholfaktor griff in den Jahren nach der Finanzkrise. Die Rentenerhöhungen fielen in den Folgejahren deutlich geringer aus wie nach der Rentenformel eigentlich vorgesehen. Mit der „doppelten Haltelinie“ setzte Heil dieses Regelwerk außer Kraft. Er versteckte die Aussetzung des Nachholfaktors gewieft und kryptisch im Sozialgesetzbuch VI, §255g. Dort heißt es, „Der Ausgleichsbedarf beträgt in der Zeit bis zum 30. Juni 2026 1,0000. Eine Berechnung des Ausgleichsbedarfs nach § 68a erfolgt in dieser Zeit nicht“.

SPD am Sozialisieren

Die SPD hat im Fall „Nachholfaktor“ ähnlich agiert, wie damals 2003, als sie mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz (GMG), insbesondere mit den §229  und § 248 SGB V über Nacht Millionen Direktversicherte und Betriebsrentner enteignete, in dem sie ihnen die doppelten Krankenversicherungsbeiträge aufbürdete.

Den Preis wird der Steuerzahler tragen müssen: Denn sinken die Renten nicht, obwohl sie sinken müssten, erhöht sich der Rentenbeitrag der Beschäftigten nicht, muss die Differenz der Staat ausgleichen – und der holt sich das Geld wiederum bei den Steuerzahlern. Niemand bekommt etwas geschenkt, auch wenn Politiker so tun als ob.

Nach uns die Sintflut

Angela Merkel antwortete Johannes Vogel lapidar: “Der von ihnen beschriebene Effekt, dass die Renten stärker als die Löhne steigen könnten”, komme “frühestens bei der Rentenanpassung zum 1. Juli 2022 zum Tragen” – und dann ist sie nicht mehr im Amt. „Nach mir die Sintflut“, ließe sich nur ergänzen. Da passt auch ins Bild, dass sie die längst überfällige Reform des Rentensystem mit der Installierung einer Rentenkommission seit 2018 auf die lange Bank schiebt. Das Ergebnis war, wie nicht anders zu erwarten, heiße Luft.

Um wie viel könnte das Rentenniveau steigen. Die „Welt“ hat geschätzt, dass das Rentenniveau, je nach Schwere der Rezession (neun Prozent minus beim Bruttoinlandsprodukt), bis auf 52 Prozent steigen könnte. Die Rentner bekommen deswegen, wie gesagt, nicht mehr Geld. DVG-Mitglied Norbert Böttcher kommt auf etwas andere Werte. Angenommen, die Durchschnittslöhne sinken um fünf Prozent, dann erhöht sich das Rentenniveau um 2,6 Prozent, bei zehn Prozent niedrigeren Löhne sind es 5,3 Prozent. Er rechnet das an einem einfachen Beispiel vor:

Wie das Rentenniveau steigt

Durchschnittslohn: 40.000 Euro
Rente: 20.000 Euro
Rentenniveau: 50 Prozent

Durchschnittslohn sinkt auf 35.000 Euro durch Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit. Rente bleibt gleich: 20.000 : 35.000 = 57 Prozent.

Auf den Renten-Entgeltpunkt (EP) wirkt sich das ebenfalls aus. Der eigene Verdienst wird durch den Durchschnittsverdienst geteilt.

40.000 : 40.000 = 1,0 EP
80.000 : 40.000 = 2,0 EP
60.000 : 40.000 = 1,5 EP
20.000 : 40.000 = 0,5 EP

Wer weiterhin gut verdient, bekommt bei einer Rezession mit sinkendem Durchschnittslohn mehr Entgeltpunkte:

80.000 : 35.000 = 2,3 EP

Sinkt der eigene Verdienst im selben Verhältnis wie der Durchschnittsverdienst, bleibt der EP gleich, also keine Einbuße.
35.000 : 35.000 = 1,0 EP

Böttcher hat mehrere Szenarien durchgespielt – siehe Tabelle:

Rentenniveau und Durchschnittslöhne

rentenniveau_2020
Wie sich das Rentenniveau bei sinkenden Durchschnittslöhnen entwickelt.        Quelle: Norbert Böttcher

 

Norbert Böttchers Leserbrief im “Ried Echo” bringt es auf den Punkt

200118_Leserbrief
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