Zweimal zur Kasse gebeten

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Quelle: WirtschaftsWoche Heft 37/2024 vom 06.09.2024 S. 74 von Niklas Hoyer

 

Brigitte Pötzl nimmt die Dinge nicht einfach so hin. Sonst hätte die heutige 67 – jährige aus der Nähe von Darmstadt in den 1980er Jahren nicht Maschinenbau studiert. Damals war das Studium noch eine reine Männerdomäne. Pötzl boxte sich durch, wurde später Abteilungsleiterin beim Reifenhersteller Pirelli. Heute ist sie im Ruhestand – und kämpft erneut. Wogegen? Gegen „staatlich abgesegneten Betrug“ sagte Pötzl gegen einen rückwirkenden Eingriff in die Altersvorsorge von Millionen Menschen – ein echter Vertrauensbruch.

Seit Jahren protestieren Betriebsrentnerinnen und Betriebsrentner dagegen, dass sie auf Auszahlungen Beiträge zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung zahlen sollen. Was sie besonders aufregt. Die 2004 eingeführte Beitragspflicht gilt auch für Direktversicherungen, die vor Jahrzehnten abgeschlossen worden sind. Dabei hat die allein der Arbeitnehmer finanziert, aus bereits mit Steuern und Sozialabgaben belasteten Einkommen.

Pötzl hatte ihre Direktversicherung Mitte der 1980er-Jahre abgeschlossen. Sie wollte damit privat fürs Alter vorsorgen. Die Beiträge hat auch sie immer aus dem Nettoeinkommen geleistet, ohne Zuschüsse vom Arbeitgeber. Doch weil der Vertrag über diesen lief, zählt der Vertrag als Betriebsrente, obwohl Pötzl ihn nie als solchen verstanden hat.

2017, mit 60, bekam Pötzl aus der Versicherung 70.000 Euro. Seither muss sie zehn Jahre  lang darauf Kassenbeiträge zahlen, über 100 Euro im Monat. „Für mich kam das völlig überraschend. Es macht mich jeden Monat aufs Neue wütend“, sagt sie. Als Gutverdienerin sei sie immer in der gesetzlichen Versicherung geblieben, einer Solidargemeinschaft, wie sie sagt. Und als Dank werde sie nun, völlig unsolidarisch, zum zweiten Mal zur Kasse gebeten.

Vor Gericht haben Betroffene bislang kaum Erfolge erzielt. Trotzdem fühlen sie sich im Recht. Und gerade können sie sogar ein wenig hoffen. Grund dafür sind Signale des Bundeskanzlers Olaf Scholz (SPD). Der hatte schon im September 2022 bei einem Bürgerdialog gesagt, dass man bis zur nächsten Wahl eine Lösung finden wolle.

Doch wann und wie kommt die? Die Bundesregierung reagiert auf Anfrage zurückhaltend. Das Bundesgesundheitsministeriumerklärt – mit Beteiligung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales und des Bundeskanzleramts -, man schließe Anpassungen immerhin nicht aus. Zwar sei eine weitere Entlastungbei den Krankenkassenbeiträgen auf Betriebsrenten „nicht Bestandteil des Koalitionsvertrags“. Scholz habe sich aber offen gezeigt, „für Rentnerinnen und Rentner mit bereits ausgezahlten und verbeitragten Betriebsrenten“ zusätzliche „fiskalische Möglichkeiten zu prüfen.“

Gemeint ist wohl, dass Betroffene zwar erst einmal die Beiträge stemmen müssen – aber wenigstens steuerlich entlastet werden sollen.

Das klingt sehr vage. Und das Ministerium schiebt auch gleich nach. Scholz habe betont, dies sei kompliziert. Eine konkrete Entlastung sei kurz- und mittelfristig also nicht zu erwarten. Die „Prüfung der Möglichkeiten dauert an.“

20 Prozent auf Alles

Pötzl will nicht länger warten. Sie hat im Verein Direktversicherungsgeschädigte e.V. die Regionalgruppe Südhessen gegründet. Dort organisieren Betroffene Protestaktionen. Das Bundeverfassungsgericht und das Bundessozialgericht haben die „Doppelverbeitragung“ von Betriebsrenten in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung allerdings weitgehend für zulässig erklärt. 2010 stellten die Richter klar, dass – anders als im Steuerrecht – doppelte Kassenbeiträge während der Ein- und Auszahlung  nicht unbedingt verfassungswidrig seien (1 BVR 739/08)

Obwohl es mehrere Betriebsrentenarten gibt, die unterschiedlich gestaltet werden können und die je nach Abschlussjahranderen Regen unterliegen, erheben Krankenkassen ihre Beiträge darauf im Kern immer gleich. Betriebsrentner zahlen den vollen Beitragssatz, rund 20 Prozent. Fließt das Geld auf einen Schlag, wie der Beitrag auf ein Einhundertzwanzigstel davon berechnet – und ist dann 120 Monate lang fällig.

Privatversicherte zahlen ihre Beiträge dagegen unabhängig vom Einkommen, bei ihnen ändern Betriebsrenten also weder in der Ein- und Auszahlungsphase etwas an der Beitragshöhe.

Um die Beitragslast der gesetzlich Versicherten wenigstens abzumildern, profitieren im Alter Pflichtversicherte seit einiger Zeit von einem Freibetrag. Auf die ersten 176,75 Euro an Betriebsrente pro Monat zahlen sie keinen Krankenkassenbeitrag, darüber anteilig. In der Pflegeversicherung gibt es dagegen eine Freigrenze. Bis 176,75 Euro pro Monat fällt dort kein Beitrag an, darüber aber auf die komplette Rente. In Summe werden die Beiträge auf monatlich maximal 5175 Euro an Einkünften erhoben, der aktuellen Beitragsbemessungsgrenze.

Kompliziert genug. Doch diese Regeln reichen oft nicht, um eine Doppelverbeitragung zu vermeiden. Dabei geht es selten um neuere Verträge, deren Beiträge normalerweise von Sozialabgaben befreit sind. Außerdem muss der Arbeitgeber Geld zuschießen, weil auch er Sozialausgaben spart. Im Großen und Ganzen stellt das eine faire Belastung über Ein- und Auszahlungsphase sicher.

Vor allem bei älteren, vor 2005 abgeschlossenen Direktversicherungen ist das meist anders. Werden deren Beiträge durch Entgeldumwandlung finanziert – also durch die Umwandlung von Gehalt, – sind diese nicht sozialabgabenfrei. Trotzdem greift bei Auszahlung der volle Beitrag.

Es geht um Millionen Verträge, abgeschlossen in den 1980er – und 1990er- Jahren. Zurück geht diese Beitragspflicht auf einen Eingriff im Juli des Jahres 2003. Damals einigten sich die Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) und CSU-Sozialexperte Horst Seehofer in nächtlichen Beratungen auf eine Gesundheitsreform. Seehofer beschrieb die Verhandlungen später als „einen der schönsten Nächte meines Lebens.“

Für die Betroffenen mit jahrzehntealten Direktversicherungen klingt das wie ein Hohn. Manche bezweifeln aber, dass das Gesetz damals überhaupt so gedacht war, wie es wirkt. Denn in der Gesetzesbegründung heißt es, mit den geänderten Kassenbeiträgen auf Betriebsrenten sollten „Umgehungsmöglichkeiten“ beseitigt werden.

Dazu muss man wissen: Schon damals waren laufend gezahlte Betriebsrenten beitragspflichtig, wenn auch nur mit dem halben Beitragssatz. Auch auf Einmalzahlungen, die zur Abfindung einer solchen fälligen Betriebsrente gezahlt wurden, fielen Krankenkassenbeiträge an. Wurde die Abfindung hingegen vor Fälligkeit vereinbart oder war von vornherein eine Einmalzahlung vereinbart, gingen die Krankenkassen leer aus.

Ein historischer Irrtum

Findige Berater nutzten das aus. Sie wandelten Betriebsrenten früh genug in Einmalzahlungen um. „Die Beitragspflicht wird also durch entsprechende Vereinbarungen um gangen“, heißt es in der Gesetzesbegründung. „Aus Gründen der gleichmäßigen Besteuerung aller Betroffenensoll dies Lücke geschlossen werden.“

Die rein privat finanzierten Direktversicherungen sahen von Anfang an nur Einmalzahlungen vor. Von einer Umgehung der Beitragspflicht kann hier daher kaum die Rede sein, Die heutigen Regeln waren beim Abschluss gar nicht absehbar. Im Gegenteil. Bis 1983 waren Rentnerinnen und Rentner meist beitragsfrei krankenversichert. Selbst auf gesetzliche Renten fiel damals kein Beitrag an.

Es sei bei der Gesetzesänderung 2003 nicht beabsichtigt, rein privat finanzierte Bezüge mit Beiträgen zu belasten, sagte einer, der am damaligen Gesetz für die Bundesregierung federführend beteiligt war. Namentlich zitiert werden möchte er nicht.

Sind die Krankenkassenbeiträge auf die alten Direktversicherungen ein historischer Irrtum? Betroffene gehen noch einen Schritt weiter. Einer nennt die Doppelverbeitragung einen „gesetzeswidrigen Willkürakt.“ Er stützt sich bei seiner Bewertung auch auf einen Aufsatz aus dem Jahr 2019 von Karl-Jürgen Bieback. Darin kommt der ehemalige Professor für Arbeits- und Sozialrecht an der Universität Hamburg per Auslegung zu dem Ergebnis, dass die alten Direktversicherungen – die von Anfang an nur eine Einmalzahlung vorsahen – schon vom Gesetzeswortlaut hier beitragsfrei bleiben mussten. Es handelt sich eigentlich um Lebensversicherungen mit Kapitalauszahlung und keine beitragspflichtigen Betriebsrenten.

Ausnahmen von der Beitragspflicht gibt es auch heute schon. Seit 2018 fallen beispielsweise auf betriebliche Riester-Renten keine Kassenbeiträge an, weil diese mit bereits mit Sozialausgaben belastetem Einkommen finanziert werden. Auch privat fortgeführte Betriebsrentenverträge können anteilig befreit werden, wenn sich Versicherte selbst als Versicherungsnehmer eintragen lassen.

Bieback habe bei diesem Aufsatz die spätere maßgebliche Rechtsprechung des Bundessozialgerichts und des Bundesverfassungsgerichts jedoch noch nicht berücksichtigt, sagte Mathias Klose, Fachanwalt für Sozialrecht in Regensburg. Es handle sich um eine Einzelmeinung mit der wohl kein Umschwung bei der rechtlichen Bewertung zu erzielen sei.

Die frühere Pirelli-Abteilungsleiterin Pötzl ficht das nicht an. „Hoffnung habe immer. Die lasse ich mir nicht nehmen.“ Im Oktober trifft sich ihre Regionalgruppe wieder, im Restaurant Villa Trautheim in Mühltal. Mit ihren Mitstreitern wird Pötzl Pläne schmieden. Ein Datum haben sie dabei fest im Blick, den 28. September 2025 – der voraussichtliche Tag der nächsten Bundestagswahl. ?

Bearbeitet: Andreas Reich DVG e.V.