Legen die Sozialgerichte Gesetze Anders aus als vom Bundestag beschlossen?
Von Reiner Korth, 20.10.2024
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Eigentlich haben wir im demokratisch regierten Deutschland das System der Gewaltenteilung, eigentlich. Die Legislative (z. B. im Sozialrecht der Bundestag) erläßt die Gesetze, die Exekutive, die staatlichen Verwaltungsorgane wenden diese an und die “freie und unabhängige” Jurisdiktion (die Gerichte) urteilen darüber, ob staatliche Behörden, Wirtschaftsgesellschaften und Privatpersonen in ihrem Handeln gegen das Gesetz verstoßen haben oder eben das Gesetz richtig angewendet haben?
Ganz anders sieht es dagegen im Sozialrecht aus. Unser Kollege Reinhard Günther hat in seinem Beitrag im Forum vom 14. Oktober 2024 in aller Ausführlichkeit dargelegt, wie das Bundessozialgericht in Kassel anders handelt, anders verhandelt hat als vom Gesetzgeber (Bundestag) seinerseits eigentlich gewollt war. Es geht um die Auslegung und Anwendung des § 229 SGB V mit dem Titel “Versorgungsbezüge als beitragspflichtige Einnahmen”. Dort ist festgelegt, welche Einnahmen der Rentner und Rentnerinnen neben der staatlichen Rente als “Versorgungsbezüge” zu werten sind, die damit dann einer Beitragspflicht zur Kranken- und zur Pflegeversicherung unterliegen.
Hat das Bundessozialgericht in Kassel das Gesetz eigenständig erweitert?
Für die “echten Betriebsrenten” (vollständig nur vom Arbeitgeber finanziert) gilt der § 248 SGB V. Diese Betriebsrenten waren schon immer beitragspflichtig, ab dem Jahr 2004 mit dem vollen Beitragssatz (Arbeitnehmer- plus Arbeitgeberanteil). Die “der Rente vergleichbare Einnahmen (Versorgungsbezüge)” unterliegen der Beitragspflicht nach § 229 SGB V. Und in diesem galt es seinerzeit 2003, die “Umgehungsmöglichkeiten bei der Beitragspflicht” zu beseitigen. So ist in der Drucksache des Deutschen Bundestages “BT 15/1525 – 15. Wahlperiode” auf Seite 139, Punkt “zu Nummer 143 (§ 229) “beschrieben, Zitat: “dass (bisher) Beiträge aus einer Kapitalabfindung nur dann berechnet werden können (konnten), wenn der Versicherungsfall (die Rentenzahlung) bereits eingetreten ist.” Wurde hingegen die Kapitalabfindung bereits “vor Eintritt des Versicherungsfalls” vereinbart, dann waren keine Krankenkassenbeiträge (auf die ursprünglich vereinbarte Betriebsrente) zu zahlen.
Weiter führt die Drucksache aus: “Die Beitragspflicht wird also durch entsprechende Vereinbarungen (Kapitalabfindungen) umgangen. Deshalb “soll diese Lücke geschlossen werden.” Nochmals kurz gefaßt:
Eine Umgehungslösung, die Zahlung von Krankenkassenbeiträgen zu vermeiden mit Hilfe einer einmaligen Kapitalabfindung anstelle einer monatlichen Betriebsrente vor Renteneintritt sollte also verhindert werden. Das war der Wille des Gesetzgebers.
In seinen Urteilen zu Klagen der Versicherten gegen eine nachträgliche Beitragspflicht definiert das Bundessozialgericht in Kassel die Auslegung des § 229 jedoch komplett anders. So begründet das BSG (völlig eigenmächtig) den Charakter einer “Betriebsrente” auch dann, wenn bei allgemeinen Kapitalauszahlungen “in
typisierender Betrachtung ein betrieblicher Zusammenhang zwischen der
Zugehörigkeit zu diesem Versorgungssystem und einer Erwerbstätigkeit besteht”.
Vereinfacht formuliert heißt das: ist ein “betrieblicher Zusammenhang” erkennbar dann ist jede Kapitalauszahlung automatisch eine “Betriebsrente”, sagt das Sozialgericht.
Und für das Sozialgericht ist es auch ohne Belang, ob der Versicherungsbeitrag zu einer Kapitallebensversicherung allein vom Arbeitnehmer finanziert wurde! Zitat: “Die Finanzierung der Direktversicherung durch den Kläger als Arbeitnehmer beseitigt ihre Charakterisierung als betriebliche Altersversorgung nicht” (B 12 KR 17/18 R, 2019).
Der § 229 SGB V allerdings kennt den Begriff “betrieblicher Zusammenhang” als ein Kriterium zur Beitragspflicht überhaupt nicht. Dieser Terminus ist im Gesetzestext nicht zu finden. Mit dieser Begründung geht das Bundessozialgericht also ganz deutlich weit über den Rahmen hinaus, den der Gesetzgeber seinerzeit beabsichtigt hatte, nämlich nur “eine Umgehungsmöglichkeit bei der Beitragspflicht” durch die Form der Zahlung einer “Kapitalabfindung” zu verhindern.
Die Sozialrichter spannen den Bogen also weiter als der Gesetzgeber beabsichtigt hatte. Und die Politiker im Bundestag schauen duldend weg. Der Betrogene ist der normale Arbeitnehmer, der im Vertrauen auf die Politik eine Kapitallebensversicherung über einen Gruppenversicherungsvertrag abgeschlossen hatte, die mit einer Pauschalsteuer seinerzeit gefördert wurde. Der Arbeitnehmer wird jetzt von der Legislative und der Jurisdiktion wissentlich falsch verbeitragt.
Was bleibt ihm, um sich gegen das nachweislich beschriebene Unrecht zu wehren. Wenn Sozialgerichte Ungleichbehandlungen manifestieren, dann hilft als einziges Mittel in der Demokratie nur noch Aufstehen, lauter Protest und ein anderes Wahlverhalten bei der nächsten Bundestagswahl.