“Pink-Westen” protestieren in Erfurt

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ERFURT  Zum ersten Mal gehen am Samstag bundesweit zeitgleich Direktversicherungsbeschädigte auf die Straße – auch in Erfurt. Wir beantworten dazu die wichtigsten Fragen.

Sibylle Göbel, 22.10.2019, 05:29

Einen Tag vor der Landtagswahl in Thüringen gehen am Samstag bundesweit sogenannte Direktversicherungsgeschädigte auf die Straße – ab 11 Uhr auch in Erfurt. Sie wehren sich dagegen, dass der Staat sie aus ihrer Sicht um einen Teil ihrer Ersparnisse bringt, indem sie knapp 20 Prozent des Auszahlungsbetrages ihrer Direktversicherung an die Krankenkassen entrichten müssen. Als besonders ärgerlich empfinden es Betroffene dabei, dass mit dem 2003 von Rot-Grün verabschiedeten Gesundheitsmodernisierungsgesetz beschlossen wurde, diese Regelung rückwirkend auch auf alle davor abgeschlossene Policen anzuwenden.

Infolge dieser Doppelverbeitragung, wie sie Experten nennen, bleiben den Versicherten von jedem angesparten Euro nur rund 80 Cent. Das gilt auch für Arbeitnehmer, die die Prämien für ihre Altersvorsorge vom Nettolohn beglichen und bereits Sozialabgaben gezahlt haben.

Stopp der Doppelverbeitragung

An die Seite der Thüringer Direktversicherungsgeschädigten wollen sich am Samstag in Erfurt neben Sozialverbänden auch Landespolitiker stellen: Zuerst hatte Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) seine Teilnahme am Protest der Pink-Westen zugesagt, inzwischen kündigte auch SPD-Spitzenkandidat Wolfgang Tiefensee eine Rede an. Gerhard Kiesewetter, Bundesvorsitzender des Vereins der Direktversicherungsgeschädigten, hat daraufhin seine Teilnahme an der Demo in Dortmund ab- und dafür die an der Protestaktion in Erfurt zugesagt.

Der Verein fordert mit Blick auf die milliardenschweren Rücklagen der Krankenkassen einen sofortigen Stopp der Doppelverbeitragung und eine Entschädigung der Versicherten, denen seit 2004 die Sanierung des Gesundheitsfonds aufgebürdet wurde.

Die wichtigsten Fragen und Antworten

Neben Dresden, Hannover, Halle, Kassel, Karlsruhe, München und vielen anderen Städten ist auch Erfurt Ort des Aktionstages.

Wann und wo treffen sich die Teilnehmer der Protestaktion?

Treffpunkt ist um 10.45 Uhr an den Domstufen auf dem Domplatz in Erfurt. Start ist um 11 Uhr, das Ende der Demo ist für 13 Uhr geplant. Der Protestzug führt vom Domplatz über den Fischmarkt und Anger bis zur Staatskanzlei. Vor dem Start erhalten alle Teilnehmer eine pinkfarbene Weste – das äußere Zeichen der Bewegung.

Wer kann an der Demonstration teilnehmen?

Jeder, der selbst betroffen ist oder nach Erreichen des Rentenalters betroffen sein wird und natürlich auch jeder, der das Anliegen unterstützen will. Wer dabei sein will, wird gebeten, dies vorab per E-Mail an oder zu signalisieren. Aber natürlich sind auch Kurzentschlossene willkommen.

Wer ist der Veranstalter der Demos?

Der Verein für Direktversicherungsgeschädigte, der sich 2015 gegründet hat und inzwischen bundesweit mehrere tausend Mitglieder zählt. In Thüringen wird derzeit die Gründung einer Regionalgruppe vorbereitet. An einem ersten informellen Treffen am 9. August in Oberweimar nahmen zirka 130 Interessierte aus ganz Thüringen teil.

Worum geht es bei der Protestaktion, was ist das Anliegen?

Wenn Direktversicherte aus dem Berufsleben ausscheiden, müssen sie fast ein Fünftel der Auszahlungen aus ihrer Direktversicherung oder Betriebsrente an die Krankenkassen abführen. Auch Direktversicherte, die bereits in der Einzahlphase Sozialbeiträge entrichteten, haben dann den vollen Beitragssatz, sprich: den Arbeitnehmer- und den Arbeitgeberanteil, plus Zusatz- und Pflegebeitrag abzuführen. Diesen Zugriff auf die Altersvorsorge prangert der Verein der Direktversicherungsgeschädigten an und fordert ein Ende der Doppelverbeitragung. Dar-über hinaus setzt er sich für eine finanzielle Entschädigung aller ein, die seit 2004 zahlen mussten, ihre Policen aber lange vorher abgeschlossen haben.

Warum wird das als ungerecht empfunden?

Weil mit dem 2003 verabschiedeten Gesundheitsmodernisierungsgesetz nachträglich und ohne Bestandsschutz in die bestehenden Versicherungsverträge eingegriffen wurde. Das heißt, rückwirkend und einseitig wurden die Konditionen geändert, um die zu diesem Zeitpunkt klammen Sozialkassen wieder zu füllen. Das empfinden die Betroffenen auch deshalb als empörend, weil die Politik immer wieder betont, wie wichtig es ist, neben der gesetzlichen Rente auch privat und betrieblich für das Alter vorzusorgen. Und auch, weil Privatversicherte anders als gesetzlich Versicherte nicht zur Kasse gebeten werden. Hätten die Direktversicherten zudem das Geld privat statt in einer Direktversicherung angelegt, müssten sie auf den Auszahlbetrag keine Sozialbeiträge entrichten.

Wie viele Direktversicherte sind betroffen?

Nach Angaben des Vereins der Direktversicherungsgeschädigten mindestens 6,3 Millionen Menschen. Etliche davon haben zudem mehrere Policen.

Haben denn Betroffene nicht schon gegen diese Regelung geklagt?

Doch. Aber bisher ohne Erfolg. Die Gerichte schmettern Klagen in allen Instanzen ab.

Was sagen die im Bundestag vertretenen Parteien?

Die erste Fraktion, die sich für eine Änderung des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes stark gemacht hat, war die Linke. Inzwischen sind aber alle Parteien für eine Korrektur, weil sie erkannt haben, dass durch ein solches Gesetz das Vertrauen in die Politik Schaden genommen hat. Viele Betroffene haben sich geschworen, keine der Parteien, die das Gesetz damals beschlossen haben – Rot-Grün unter Gerhard Schröder (SPD) mit den Stimmen der Union – wieder zu wählen, wenn sich nichts ändert. Vor allem in der Union aber bestehen unterschiedliche Lager: Bundeskanzlerin Angela Merkel hat zum Beispiel erst im Frühjahr wieder gesagt, dass sie keine Möglichkeit für eine Korrektur sieht. Zudem gibt es Bundestagsabgeordnete der Union – darunter der Eichsfelder Manfred Grund – die sagen: Die Generation der Rentner erkrankt häufiger und länger und nimmt dadurch die Krankenkassen viel mehr in Anspruch als Jüngere – folglich sollte auch ihr Anteil an der Finanzierung der Leistungen entsprechend höher sein.

Diskutiert wird von der Politik derzeit eine Halbierung des Beitragssatzes ab 2020.

Warum ist das Thema im Moment so aktuell? Das Problem besteht doch schon seit 2004.

Zum einen natürlich, weil immer mehr Betroffene das Rentenalter erreichen und oft erst zu diesem Zeitpunkt erfahren, was auf sie zukommt. Denn in den Standmitteilungen der Versicherer steht kein Wort davon, dass die Beiträge an die Krankenkassen fällig werden. Zum anderen, weil sich gerade ein Zeitfenster für eine Änderung geöffnet hat, das sich aber rasch wieder schließen könnte.

Warum könnte sich dieses Zeitfenster wieder schließen?

Die Krankenkassen haben zwar Rücklagen in Milliardenhöhe angespart, so dass nicht der Steuerzahler dafür gerade stehen müsste, wenn die Direktversicherten entlastet werden. Aber andererseits haben die Krankenkassen erst vor wenigen Tagen höhere Beiträge von 2020 an in Aussicht gestellt, weil teure Reformen, die die Bundesregierung auf den Weg gebracht hat, bezahlt werden müssten. Überdies könnten sich die schwächelnde Konjunktur und der damit einhergehende Rückgang der Anzahl sozialversicherungspflichtig Beschäftigter negativ auswirken.

Aber hatte nicht jüngst erst Bundesfinanzminister Olaf Scholz versprochen, dass sich etwas tut?

Ja, der Minister war während der SPD-Kandidatenkür mehrfach auf dieses Thema angesprochen worden und hatte dabei die Gesetzesänderung von 2003 kritisiert. Sie sei, sagte er, ein Fehler, weil die Direktversicherten mit der rückwirkenden Änderung ge- und enttäuscht worden seien. Scholz scheint bewusst zu sein, dass die Politik durch diese Regelung viel Vertrauen verspielt hat. Ob sich Scholz aber in der Koalition durchsetzen kann, ist fraglich. Nach Berechnungen des Vereins der Direktversicherungsgeschädigten wurden in den Jahren 2004 bis 2018 etwa acht bis elf Milliarden Euro eingenommen.

Welche Folgen könnte es haben, wenn es nicht zu einer Korrektur kommt?

Der Frust wird wachsen. Und immer mehr Arbeitnehmer werden sich fragen, weshalb sie eine betriebliche Altersvorsorge als drittes Standbein aufbauen sollen. Denn wenn die Rendite gleich null ist und die Betriebsrente ein Minus-Geschäft, fehlen schlicht Argumente dafür.

Foto: Sebastian Kahnert/dpa