„Bürger müssen an eine gute Zukunft glauben“, aber das Münsteraner Versprechen von Kanzler Scholz steht auf der Kippe, so erkennt es DVG-Mitglied Reiner Wellmann in seinem Kommentar:
Ein Kommentar von Reiner Wellmann, Rheine
„Bei der AfD werden sie sich klamm heimlich gefreut haben. Am 13. und 14. Juli 2023 ereigneten sich in Berlin Dinge, die Millionen Rentnern zeigten, dass sie sich auf diese Regierung offenbar nicht mehr verlassen können. Und so wird sich der Unmut über nicht eingehaltene Versprechungen und über Vertrauensbruch weiter seine Wege suchen.
Doch der Reihe nach: Am 13. Juli erhielt Michael Muschiol, Mitglied im Verein der Direktversicherungsgeschädigten e.V., eine Mail aus dem Bundeskanzleramt. Er hatte wenige Tage zuvor den Bundeskanzler Olaf Scholz an sein im September 2021 vor der letzten Wahl in Münster öffentlich gegebenes Versprechen erinnert, die Doppelverbeitragung der betrieblichen Altersvorsorge noch in dieser Legislaturperiode zu beenden. „Darauf können Sie sich verlassen“, hatte der damalige Kanzlerkandidat sogar versprochen. Gemeint war die seit 2004 mit dem so genannten Gesundheitsmodernisierungsgesetz eingeführte Krankenversicherungspflicht auf Auszahlungen von Direktversicherungen. Mit dem umstrittenen Gesetz wurden die Ersparnisse der Arbeitnehmer rückwirkend mit Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen belastet. Knapp 20 Prozent der ausgezahlten Leistungen müssen die Arbeitnehmer seither an die Krankenkassen zahlen. Betroffen sind rund 13 Millionen Rentnerinnen und Rentner – 6,3 Mio. Direktversicherungsgeschädigt und 6,5 Mio. Bezieher von Betriebsrenten.
Die Ungerechtigkeit ist allen Abgeordneten bestens bekannt. In persönlichen Gesprächen räumen sie das sogar ganz klar ein. Umso mehr hatten Millionen Sparer nach dem Münsteraner Versprechen von Scholz gehofft, dass das Unrecht in absehbarer Zeit beseitig würde. Aber die Antwort des Bundeskanzleramtes vom 13. Juli räumte mit allen Illusionen schlagartig auf, Zitat: „Vor dem Hintergrund der aktuellen Finanzsituation ist […] derzeit noch offen, ob sich im Laufe der Legislaturperiode Möglichkeiten ergeben, Betriebsrentnerinnen und Betriebsrentner im Hinblick auf den Beitrag zur GKV weitergehend zu entlasten“, teilte das Referat für Gesundheitspolitik dem Fragesteller mit. Im Klartext heißt das: Daraus wird wohl nichts – denn die Finanzsituation ist immer angespannt. Und das Versprechen des Kanzlers? Ist mit einem Satz nichts mehr wert.
Umso erstaunlicher dann ein Statement des Kanzlers bei seiner Jahrespressekonferenz am Tag darauf, Freitag, der 14. Juli 2023. Er wird nach der hohen Zustimmung für die AfD gefragt, die seine SPD inzwischen sogar deutlich überholt hat. Laut Medienberichten führt Scholz das Umfragehoch auf die Zukunftssorgen vieler Menschen zurück. Zu viele Bürger seien unsicher, „wie die Zukunft sein wird in 10, 20 und 30 Jahren“. Scholz: „Für mich heißt das, dass man Politik machen muss, bei der die Bürgerinnen und Bürger für sich genügend Gründe haben, an eine gute Zukunft zu glauben.“
Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Da haben Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer jahrzehntelange zusätzlich für den Ruhestand vorgesorgt, in dem sie – oft mit Unterstützung der Arbeitgeber – aus bereits verbeitragtem Einkommen in Direktversicherungen eingezahlt haben. Beim Abschluss war immer klar gewesen, dass die späteren Auszahlungen ohne jegliche Abzüge erfolgten würden, so wie der Staat es garantiert hatte. Darauf konnte man damals noch vertrauen, bis 2004. Dann wurden mitten im Spiel die Regeln geändert. Mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz wurden die selbst angesparten Lebensversicherungen umdefiniert in „Bezüge der betrieblichen Altersvorsorge“. Und die wurden voll krankenversicherungspflichtig.
Mit Logik hatte das alles nichts zu tun. Und das Bundessozialgericht in Kassel machte den Vertrauensbruch sogar legal. „Wenn die Direktversicherung über das Konto des Arbeitgebers bespart wurde, so handelt es sich auch um Bezüge der betrieblichen Altersvorsorge“, so lautet einer der Leitsätze der 1. Kammer des Gerichts. Nur ist es das Prinzip der Direktversicherung, dass der Arbeitgeber als Versicherungsnehmer auftritt und der Arbeitgeber der Begünstigte ist. Aus diesem Prinzip, das auf dem alten kaufmännischen Grundsatz von Treu und Glauben basiert, drehte das Kasseler Gericht den Strick, der Millionen gutgläubige Arbeitnehmer stranguliert. Die meisten erfahren übrigens erst kurz vor dem Ruhestand von dem finanziellen Ungemach.
Gebrochene Versprechen, zerstörtes Vertrauen, Enteignung von einem Fünftel (Tendenz steigend!) des jahrzehntelang Angesparten – da ist die Enttäuschung riesig. Und der Protest landet eben auch bei der AfD. 75 Prozent aller AfD-Sympathisanten gaben im Juli an, für diese Partei zu votieren, um anderen Parteien einen Denkzettel zu verpassen. Man muss weder Demoskop sein, noch Statistiker, um die Prognose abzugeben, dass sich dieser Anteil weiter erhöhen wird, da sich auch die Oppositionspartei CDU vor der notwendigen Klarheit drückt. Es gibt einen Beschluss des CDU-Parteitags in Hamburg 2018, die Doppelverbeitragung abzuschaffen. Aber aus völlig unerklärlichen Gründen denken Merz& Co. nicht einmal im Ansatz daran, diesen Beschluß auch umzusetzen.
Die FDP hatte die Abschaffung der Doppelverbeitragung im Wahlprogramm 2021 stehen, hat den Punkt dann aber bei den Koalitionsverhandlungen einfach vergessen. Lediglich die Grünen sind klar, sie stehen zu dieser ungerechten Abschöpfung.
Was tun? Darauf warten, dass Aiwangers „Freie Wähler“ bei der nächsten Wahl bundesweit antreten? Die jüngsten Wahlen im Nachbarland Niederlande haben gezeigt, wie der angestaute Frust für erdrutschartige Veränderungen sorgen kann. An der erst 2019 gegründeten „BBB“ – der Bürger- und Bauernbewegung – führt kaum noch ein Weg vorbei. Sie wurde bei den jüngsten Regionalwahlen stärkste Kraft im Lande. Es wird höchste Zeit, dass sich auch in der Bundesrepublik auch etwas dreht. Das Vertrauen in die etablierten Parteien ist – zumindest aus Sicht der Rentner – völlig zerstört.“
Hier gibt noch einen aktuellen Artikel auf MV-Online (zahlungspflichtig)
www.mv-online.de/lokales/rheine/direktversicherungsgeschaedigte-machen-weiter-351709.html
Kommentar: Reiner Wellmann Foto: DVG
Redaktion: Thomas Kießling